Ein dickes Problem

Lipödeme: Mein Leben mit Lipödem

Bei Lipödemen kann jede Bewegung schmerzhaft sein. | © Getty Images
Wenn die Beine zum Hindernis werden: Lipödeme.
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Gegen Lipödeme hilft weder Sport noch Diät. Was tun gegen immer dicker werdende Beine? Eine Frau erzählt von ihrem radikalen Schritt im Kampf gegen die Krankheit.

Am Ende, kurz vor der Operation, schmerzte jeder Schritt. Jede Stufe schien ihr ein Hindernis, das andere mühelos nahmen und sie herausforderte. Sie blieb kurz stehen, holte Luft und ging weiter. Ihre Beine fühlten sich an, als würde jedes 50 kg wiegen. Und wenn sie an sich herunterblickte, sah sie Fettwülste über dem Knie. Abends hätte sie diese Beine, die nicht zu ihrem Körper zu gehören schienen, am liebsten abgeschraubt und in die Ecke gestellt. Sie wollte sich des Problems entledigen, aber ihr Wille vermochte nichts auszurichten. Manchmal wusste Silvia Furtwängler nicht, was schlimmer war: der Schmerz oder ihre Hilflosigkeit. Sie war es gewohnt, ihr Leben selbst zu ­bestimmen. Nun störte sie dabei ausgerechnet ihr eigener Körper, behinderte sie eine Krankheit, von der sie viele Jahre nichts wusste: Lipödeme.

Eine Krankheit mit Tücken

„Sie haben Lipödeme und Lymph­ödeme“, diagnostizierte ein Arzt 2008. Da hatte die Frau mit den schwarzen Korkenzieherlocken bereits etliche Ärzte aufgesucht. 20 Jahre hatte sie zugesehen, wie das Fett an ihren Beinen wuchs und wanderte. Silvia Furtwängler ist schlank. Das, was sich über ihren ­Knien ansammelte, nachdem sie zwei Kinder geboren hatte, sah nicht so aus, als hätte sie einfach ein paar Kilo zugenommen. Sie trug weiter Blusen in Größe 36, hatte eine Taille, die sich sehen ließ. Und auch wenn sie schon immer ein breites Becken, einen kräftigen Busen und Po hatte, passten die Beine plötzlich nicht mehr zu den Proportionen ihres Körpers.

Sie hätte damit weitergelebt, hätten die schlimmer werdenden Schmerzen nicht ihren Freiheitsdrang eingeschränkt. Silvia Furtwängler ist meistens draußen. Sie bewegt sich viel, eigentlich immer. Kurz nach der Diagnose "Lipödeme" ist sie mit ihrer Familie ausgewandert, vom Bayerischen Wald nach Hardangervidda, in die norwegische Hochebene. Sie ist Schlittenhunde-Führerin, eine der besten weltweit. 

Das Leben mit Lipödemen

Anfangs bekam sie Lymphdrainagen und trug Kompressions-Strümpfe. Silvia hielt es aus, dass ihr Menschen, die nichts von der Krankheit wussten, rieten, mehr Sport zu machen, sich gesünder zu ernähren. Sie hielt den Blicken stand, in denen sie lesen konnte: Hat die Frau sich nicht im Griff? Dabei können sich nur wenige so disziplinieren wie Silvia Furtwängler. Die es gelernt hat, Kälte auszuhalten, Schlafmangel und extreme Anspannung. Sie ist tausende Kilometer durch die Eiswüste gereist in Kanada, Russland und Norwegen, hat Rennen gewonnen, manchmal als einzige Frau unter Männern. Sie hat sich zusammengerissen, Erschöpfung und Ödnis ertragen, weil sie wusste: Gibt sie auf, werden die Hunde es ihr gleichtun. Nein, Silvia Furtwängler wollte kämpfen.

Mehr Sport zu machen – das rieten ihr auch die Ärzte, die sie zunächst aufsuchte, weil sie nicht verstand, warum ihre Beine so schmerzten. Vielleicht eine Thrombose, vermuteten die Mediziner. Dass es sich bei dem Fett nicht um krankhaftes Übergewicht handelte, sondern um vergrößerte Fettgewebszellen, die sich vermehrt hatten, erkannte damals keiner. Die Kapillaren, kleinste Blutgefäße, waren durchlässiger und damit verletzlicher geworden. Das Bindegewebe hatte sich verändert, die Wassereinlagerungen zugenommen. Krankhaftes Übergewicht schmerzt nicht, Lipödeme schon. Das Fett drückt auf Nerven und Muskulatur und verursacht ein Spannungsgefühl in Armen und Beinen. Ärzten fällt es oft schwer, Lipödeme und Adipositas zu differenzieren, gerade im Anfangsstadium. 

Im falschen Körper gefangen

Die 56-Jährige weiß, dass sie tapfer ist. Sie hätte an den Schmerzen verzweifeln können, sich verkriechen. Auch wenn sie Rennen gefahren ist und Berge bestiegen hat: Es gab Tage, an denen sie das Gefühl hatte, ihren Anblick niemandem mehr zumuten zu können, auch nicht ihrem Mann. Sie trug nur noch blickdichte Strümpfe, verzichtete auf Röcke. Stattdessen Boxershorts, weil die ihre Oberschenkel bedeckten. Begehrenswert fühlte sie sich nicht mehr. „Ich habe dem Bild, das ich von mir habe, nicht mehr entsprochen“, sagt sie heute, ist aber auch der Meinung, dass die Einstellung zum Leben glücklich mache oder eben nicht, perfekter Körper hin oder her.

Silvia Furtwängler hätte sich mit ihren Elefantenbeinen wohl abgefunden, wären da nicht die Schmerzen gewesen, die sie im Juli 2017 drängten, eine Fettabsaugung zu wagen. Die Liposuktion ist aufwendig. Und die Methode nicht erprobt genug, um sicherzustellen, dass sie bei Lipödemen nachhaltig wirkt. Das sagen die Krankenkassen, die die Behandlung nicht übernehmen. 10.000 Euro würde Silvia Furtwängler für den Eingriff zahlen. Das war ihr die Aussicht auf Schmerz- und Bewegungsfreiheit wert.

Also überließ sie ihre 30 Hunde der Obhut ihres jüngsten, 21-jährigen Sohnes, verließ ihr Haus am See in Hardangervidda, das man nur mit dem Boot und im Winter mit dem Schneemobil erreichen kann, und reiste nach Hamburg. Als der behandelnde Arzt der Klinik Pöseldorf fragte, ob sie erst mal eine zweite Meinung einholen wolle, reagierte sie entschieden. Sie hatte ihre Beweggründe sorgfältig sortiert. 

Ein Neuanfang 

Vier Stunden dauerte die Operation, die Schmerzen danach waren schlimm. Sie konnte sich kaum setzen. Die Wunden brannten bei jeder Berührung. 6 Zentimeter Gewebe wurden von jedem Oberschenkel abgesaugt. Wochenlang steckten ihre Beine in einer Kompressionshose. Die größte Veränderung war aber eine emotionale: Silvia Furtwängler kann wieder lächeln, wie ihr Mann bemerkt hat. Sie ist den Schmerz losgeworden, der sie hart zu sich selbst werden ließ.

Auf Facebook zeigt sie Bilder ihrer Beine und hofft, dass die Welt draußen endlich versteht, dass es nicht um Schönheit, sondern um Krankheit geht. Mehr als 200 Menschen haben ihre Beiträge kommentiert. Silvia Furtwängler stimmt das zuversichtlich, sie blickt erwartungsvoll in die Zukunft: Bald wird sie wieder ihre Hunde trainieren, noch bevor der Winter kommt.

Text: Lisa Frieda Cossham
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