Empty-Nest-Syndrom

Der Tag, an dem meine Tochter auszog

Junge frau sitzt auf einem bett und liest in einem Buch. | © Unsplash |  Kinga Cichewicz
Wenn die Kinder flügge werden, ist das für Mütter oft schwer.
© Unsplash | Kinga Cichewicz

Eine 19-Jährige zieht zum Studieren in eine andere Stadt. Nur Mütter können nachvollziehen, warum das ein Drama werden kann. myself-Autorin Karina Lübke über einen schweren Abschied.

Eben waren wir noch eine normale, eingespielte Familie: Mutter, Tochter, 19, Sohn, 16. Die Große hatte Abitur gemacht und danach Praktika an Krankenhäusern, um sich auf ein Medizinstudium hier in Hamburg vorzubereiten, ihr Traum. Ich wusste, sie würde irgendwann ausziehen und vielleicht einmal die Woche zum Umarmen, Füttern, Reden vorbeikommen. Auf den sanften Entzug meiner Bemutter-Gefühle war ich vorbereitet – auf deren fristlose Kündigung nicht.

Mit einer einzigen Mail brach der schlimmste Liebeskummer meines Lebens aus wie eine schwere Seelengrippe. Es war die Zusage für den Studienplatz in Medizin, allerdings in Heidelberg. Was?! Mein Kind sollte allein in die Fremde ziehen, über sechs Fahrstunden entfernt? Sie strahlte. „Wie aufregend!“, rief ich. Und verkroch mich ins Schlafzimmer, meine Tränen liefen wie aus einer lecken Leitung direkt aus meinem Herzen. Sie brach auf zu neuen Ufern, ich blieb im Heimathafen zurück. Schlagartig alterte ich um 20 Jahre. Künftig wäre unser Zuhause nur noch ihr Erholungsheim in den Semesterferien.

Ich war immer froh, eine Mutter mit reichem Eigenleben zu sein. Und ja, es nervte, wenn die Kinder stritten und ihre Sachen überall herumliegen ließen. Wie eng unsere Leben jedoch mitei­nander verwachsen waren, das fühlte ich erst jetzt. Eines Abends schauten meine Tochter und ich auf unserem Kuschelsofa „Mamma Mia“ im Fernsehen, und als Meryl Streep den ABBA-Song „Slipping Through My Fingers“ sang, bekam ich einen Kloß im Hals. Nachts schlich ich mich wie ein Stalker in ihr Zimmer, nur um sie atmen zu hören. 

Ich rief Freundinnen an, deren Töchter und Söhne bereits aus dem Haus ­waren und denen ich Idiotin aufmunternd gesagt hatte: „Freu dich doch – so wie dich dein Kind die letzten Jahre gestresst hat!“ Jetzt heulte ich: „Ich hatte ja keine Ahnung! Tut mir leid!“ Sie verziehen mir und erzählten Geschichten aus der Schwesternschaft der leeren Nester: „Ach, als ich sein Zimmer neu gestrichen habe – die Farbe im Eimer war literweise mit Tränen verdünnt“, seufzte eine. Die andere meinte es sicher gut, als sie sagte: „Es ist bestimmt schlimmer, wenn man alleinerziehend ist und keinen Partner hat, mit dem man endlich wieder mehr Zeit verbringen kann.“ Ja. Danke!

Zur Ablenkung fuhr ich in die ­Innenstadt, um mir etwas Schönes zu kaufen, aber überall verfolgten mich Erinnerungen: An dieser Eisdiele haben wir immer Pause gemacht, sie würde Quark-Holunder nehmen … ­Oookay. Resigniert stülpte ich meine Sonnenbrille auf meine verweinten Augen und fuhr nach Hause. „Es ist nicht dein Problem, es ist meines“, sagte ich ihr. Dann machte ich einen Termin bei einer Therapeutin. Während ich der mein Problem schilderte, relativierte ich fast entschuldigend: „Ich weiß ja, dass meine Reaktion übertrieben ist, aber …“ „Ja, aber ihr Baby verlässt Sie! Und das ist erst mal schrecklich!“, rief die Therapeutin. Sie griff nach einem der Taschentücher auf dem Tisch: „Das erinnert mich daran, als meine Tochter für ein Jahr ins Ausland ging …“ Ich nahm ebenfalls ein Taschentuch und bekam immerhin den Trost, dass es normal ist, auch mal untröstlich zu sein.

Arbeiten konnte ich kaum, meine Gedanken kreisten um den Auszug, zumal wir schnellstens ein Zimmer im Niemandsland finden und den Umzug organisieren mussten. Das Kind besichtigte am Laptop WGs. Zimmer wurden zugesagt und plötzlich anderweitig vergeben. Die Nerven lagen blank, bis überraschend die Zusage für einen Platz im Studentenwohnheim eintraf. Ihre Freundinnen kamen zu Besuch, um sie zu verabschieden. Ich hörte die Mädchen lachen und vermisste es jetzt schon. 

Drei Tage vor Semesterbeginn packten wir das Auto mit ihren Kisten, Koffern und dem Teppich und fuhren Richtung Süden. Endlich ging es los. Das ganze Wochenende schien die Sonne, und ihr Zimmer war überraschend groß und hell. Wir erkundeten die Gegend, kauften Putz- und Lebensmittel, wischten, lachten und räumten – und richteten alles gemütlich ein. Dann fuhren wir ein bisschen herum, um uns die Uniklinik und die Stadt anzugucken. 

Schließlich brachte ich sie zu ihrem neuen Zuhause zurück. Parkte vor der Tür und stellte den Motor aus. Wir sahen uns an. Der Moment des Abschieds, vor dem ich am meisten Angst gehabt hatte. Durch meinen Kopf rasten die Ratschläge, Bitten, Mahnungen, Altersweisheiten: Mein Schatz! Ich wünsch dir alles Glück der Welt. Bleib offen und hilfsbereit, aber sei nicht naiv. Nimm im Dunkeln das Pfefferspray mit, das ich dir gekauft habe. Wenn du mich brauchst, ruf mich an, und ich komme, Tag und Nacht. Und zieh dich immer warm genug an. Aber hab auch mal mehr Spaß, als vernünftig wäre, genieß dein Leben. 

Mir fiel ein, dass ich ihr das auf der Hinfahrt schon 100-mal gesagt hatte. Stattdessen sagte ich einfach den kleinen magischen Satz, der alle anderen zusammenfasste: „Ich liebe dich!“ In ihrem Blick sah ich, dass sie mich verstanden hatte. Sie antwortete: „Ich liebe dich auch. Danke – für alles.“ Und in ihrem „alles“ sah ich sämtliche durchwachten Nächte, Kindertage, Geburtstage, Umarmungen, gemeinsamen Essen, Fahrten und Erlebnisse noch einmal als Schnellfilm vorbeiziehen. Dann stieg sie aus, und ich sah ihr nach, wie sie mit dem neuen Schlüssel die Tür zu ihrem neuen Leben aufschloss und darin verschwand.

Ich startete den Motor und fuhr nach Hamburg zurück, mit leerem Kopf und leerem Auto. Es regnete die ganze Strecke, das passte. Ich selbst hatte keine Tränen mehr. Alles war gut so. Ich war stolz auf sie, auf mich – und dankbar. Ich erinnerte mich an meine Panik, als mich das Krankenhaus nach ihrer Geburt nach Hause schickte: Ich hielt es für total verrückt, die nächsten 18 Jahre dafür verantwortlich zu sein, dass aus diesem winzigen, hilflosen Baby eine selbstständige junge Frau werden würde. Großes, wunderbares, schreckliches Leben – du darfst jetzt übernehmen, ich vertraue sie dir an. Aber solltest du sie schlecht behandeln, werde ich da sein, um dir in den Arsch zu treten.

 

Text: Karina Lübke
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