Wenn eine Frau mit älteren Männern ausgeht, klammert, oder sich gar nicht binden kann, dann liegt dies an ihren Daddy Issues. Falsch! Diese Ursachen und Anzeichen gehören wirklich zum Vaterkomplex,
Wann hast du zum ersten Mal von Daddy Issues gehört? Das englische Wort Daddy Issues oder auch die Übersetzung Vaterkomplex sind popkulturelle Begriffe, die seit Jahren auf Social Media, klassischen Medien, in Filmen und Songtexten auftauchen. Fachbegriffe aus der Psychologie sind sie aber nicht. Die „Diagnose Daddy Issues“ wird viel mehr an Klischees und Rollenbilder geknüpft und inflationär für Frauen verwendet, die laut Hobbypsychologen ein Problem mit Männern oder Beziehungen haben sollen.
Da der Begriff also so schön schwammig und unprofessionell verwendet werden kann, lässt er sich praktischerweise vielen verschiedenen Frauen zuschreiben. Selbst mir wurde schon gesagt, dass ich einen Vaterkomplex hätte.
Mal sind es jene mit Bindungsängsten, mal solche, die hauptsächlich mit älteren Männern ausgehen. Demnach müsste jede Exfreundin von Leo DiCaprio einen Vaterkomplex haben. Manchmal sind es auch besonders unterwürfige Ehefrauen, die angeblich an Daddy Issues leiden sollen. Dabei können in Wahrheit auch Männer Daddy Issues entwickeln.
Grund genug, sich das Phänomen genauer anzusehen. Was steckt denn nun wirklich hinter Daddy Issues? Gibt es den Vaterkomplex überhaupt wirklich? Und wenn ja, was sind dann die eigentlichen Anzeichen und Symptome von Daddy Issues?
Geprägt hat den Begriff "Vaterkomplex" kein Geringerer als der Vater der problematischen Rollenbilder Sigmund Freud höchstpersönlich. Allerdings sprach Freud von der Beziehung zwischen Vater und Sohn, die zu einem Vaterkomplex führen kann.
Heute wird vor allem Frauen nachgesagt, sie hätten einen Vaterkomplex oder Daddy Issues, obwohl alle Geschlechter Daddy Issues entwickeln können. Zurückzuführen sind diese auf eine in irgendeiner Form problematische Beziehung zur Vaterfigur. Das kann beispielsweise ein abwesender Vater, ein zurückgezogener, emotional verschlossener Vater oder gar ein gewaltsamer Vater gewesen sein, der mentale Narben hinterlassen hat. Diese wiederum lassen spätere Komplexe entstehen.
Komplexe wiederum sind Verhaltensmuster. Vom Komplex spricht man deshalb, weil er eine komplizierte Struktur beschriebt, die von mehreren verschiedenen Faktoren beeinflusst wird. Ein Vaterkomplex kann sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen und Impulsen äußern. Sie sind meist emotional aufgeladen, passieren unbewusst und lassen sich auf die frühe Beziehung zum Vater oder zu einer vaterähnlichen Bezugsperson zurückführen.
Jeder Mensch hat ein Bedürfnis nach Liebe und Aufmerksamkeit, aber auch Verständnis und Unterstützung. Idealerweise werden diese Bedürfnisse von den Eltern in der Kindheit gestillt. Dabei spielt es eigentlich keine Rolle, welches Geschlecht die Bezugspersonen eines Kindes haben. Für Kinder zählt nur, dass sie geliebt werden.
Fehlen Kindern Zuneigung, Aufmerksamkeit, Nähe und Verständnis, dann schlägt sich dies in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen als Erwachsene nieder.
Der Vaterkomplex muss also gar kein reiner Vaterkomplex sein, sondern ist viel mehr ein Elternkomplex. Unterschiedliche Szenarien in der Eltern-Kind-Beziehung können die komplexen Verhaltensmuster im Erwachsenenalter auslösen.
Wenn beide Eltern zwar da sind, aber emotional abwesend sind, kann sich ein Kind dennoch verlassen und einsam fühlen. Kinder, die stets kontrolliert werden und kaum Entscheidungen alleine treffen dürfen, können kaum Selbstbewusstsein entwickeln. Ist die Eltern-Kind-Beziehung gekippt, weil ein Kind sich mehr um ein Elternteil kümmern muss als andersherum, kann es keine unbeschwerte Kindheit erleben.
Eltern, die missbräuchlich sind, egal ob körperlich oder psychisch, erzeugen in ihren Kindern traumatische Erlebnisse, die noch größere Komplexe bis hin zu psychischen Problemen auslösen können.
Demnach ist das Phänomen des Vaterkomplexes sehr eng mit der Bindungstheorie verknüpft. Die Attachment Theory ist noch so ein Social Media Buzzword. Allerdings ist dieser Begriff tatsächlich wissenschaftlich belegt. Laut der Bindungstheorie gibt es unterschiedliche Attachment Typen in romantischen Beziehungen, die auf die Beziehung zu unseren Bezugspersonen aus der Kindheit zurückzuführen sind. Bezugspersonen müssen demnach nicht nur die Väter sein, sondern können alle Erwachsenen sein, die einem Kind Liebe, Zuneigung und Aufmerksamkeit schenken. Expert*innen schlagen daher anstelle von Vaterkomplex und Daddy Issues den geschlechterübergreifenden Begriff Bindungstrauma vor.
Wie bereits angesprochen deutet das Wort "Komplex" schon darauf hin, dass mehrere Ursachen und Faktoren unterschiedliche Impulse und Verhaltensmuster auslösen können. Man kann also nicht pauschal sagen: Jede Frau, die einen älteren Mann datet hat ganz klare Daddy Issues - oder Parent-Issues.
Wenn du herausfinden möchtest, ob du selbst einen Vaterkomplex entwickelt hast, melde dich am besten zu Erstgesprächen in einer Therapiepraxis an. Dort kannst du mit Therapeut*innen deine Verhaltensmuster, deine Beziehungen und dein Selbstbild unter die Lupe nehmen.
Nun gibt es aber tatsächlich Anzeichen, die auf eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung hindeuten und zu Komplexen in den erwachsenen zwischenmenschlichen Beziehungen führen können.
Wenig Selbstwert
Eine Möglichkeit wäre, dass Menschen, die in ihrer Kindheit wenig Liebe und Zuneigung erfahren haben, anfangen zu denken, sie hätten diese nicht verdient. Für viele ist der Komplex an Bedingungen geknüpft, wie beispielsweise: Ich bin es nur wert geliebt zu werden, wenn ich den Idealen meines Mannes entspreche.
Das Infragestellen des persönlichen Selbstwerts und der eigenen Bedürfnisse ist mitunter das häufigste Anzeichen für Daddy Issues.
Angst vor Einsamkeit
Andere Fälle können versuchen, den Mangel an elterlicher Liebe und Aufmerksamkeit zu kompensieren, indem sie sich von einer Beziehung in die nächste stürzen. Selbst eine kaputte Beziehung ist für sie besser als alleine zu sein.
Suche nach Bestätigung
Das unbefriedigte Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuneigung kann sich aber auch anders äußern. Es gibt Menschen, die in vielen kurzfristigen oberflächlichen Partnerschaften nach ständiger Bestätigung suchen. Oder innerhalb einer Partnerschaft immer wieder nachfragen: Liebst du mich noch? Habe ich etwas falsch gemacht? Bist du wütend?
Unsicherheit und Eifersucht
Wer um die Liebe seiner Eltern kämpfen musste, fühlt sich vielleicht auch in späteren Beziehungen nicht sicher. Dann können sich Daddy Issues auch in Trust Issues äußern. Man wird eifersüchtig und lebt in der ständigen Befürchtung belogen, betrogen oder verlassen zu werden. In der Bindungstheorie nennt man diese Fälle den ängstlichen Bindungstypen.
Bindungsängste
Häufig haben Menschen, die als Kinder zu wenig Nähe bekommen haben, auch später Schwierigkeiten selbst nahbar zu sein. Manchmal äußern sich Daddy Issues auch in abweisendem oder vermeidendem Verhalten und nicht immer nur in aufmerksamkeitssuchendem. In diesem Fall spricht man auch vom vermeidenden Bindungstyp.
Viel Sex
Auf der Suche nach Liebe kann man emotionale Bindung mit körperlicher Zuneigung verwechseln. Dann könnte es sein, dass man mit vielen verschiedenen, schnell wechselnden Sexualpartnern versucht, das kindliche Bedürfnis zu stillen oder man fokussiert sich innerhalb einer Partnerschaft auf mehr körperliche als emotionale Nähe. Dass Daddy Issues Auswirkungen auf das Sexualverhalten haben sollen, ist jedoch noch umstritten und nicht eindeutig belegt.
Die Suche nach dem Beschützer
Wenn ich an dieser Stelle nicht gegendert habe, dann liegt dies daran, dass dieses sehr häufig gebrauchte Klischee sich meist auf ältere Männer bezieht. Dass Frauen mit Daddy Issues angeblich Beziehungen zu älteren Männern suchen, weil sie in ihnen eine Beschützerrolle sehen, ist ebenfalls nicht belegt.
Solltest du mit eine*r Therapeut*in gemeinsam tatsächlich einen Vaterkomplex an dir entdeckt haben, oder habt ihr ähnliche Muster wie den vermeidenden Bindungstypen oder den ängstlichen Bindungstypen erarbeitet, dann bist du schon an einem sehr guten Punkt. Glückwunsch!
In einer Therapie bist du in besten Händen. Hier kannst du das Erlebte der Kindheit und deine Eltern-Kind-Beziehung aufarbeiten und unter Umständen deinen Elternkomplex oder Vaterkomplex wieder loswerden.
Sei bitte vorsichtig mit Selbstdiagnosen oder Tests aus dem Internet. Wenn du befürchtest Schwierigkeiten mit Bindung zu haben, sei es in Form von Angst, Eifersucht oder Unnahbarkeit, dann such dir als ersten Schritt professionelle Hilfe, um deinen Befürchtungen nachzugehen.
Hast du schließlich mit professioneller Unterstützung verstanden, wo der Vaterkomplex begraben liegt und warum er deine heutigen Beziehungen beeinflusst, dann kannst du dich gezielt daran machen, deine Komplexe aufzulösen. Du kannst deinen Selbstwert ausbauen, kannst an Verlustängsten arbeiten oder lernen Nähe zuzulassen.
Ich habe bereits angesprochen, dass auch Männer Vaterkomplexe entwickeln können. In Familien mit konservativen Rollenbildern wirkt sich ein abwesender, unnahbarer oder gewaltsamer Vater anders auf die Tochter als auf den Sohn aus. Aber Spuren hinterlässt eine gestörte Vaterbeziehung in beiden Fällen.
In den vielen Fällen tendieren Frauen eher dazu, sich zu einem ängstlichen Bindungstypen zu entwickeln und Männer werden als Folge von zu wenig Nähe und Liebe häufiger zu einem vermeidenden Bindungstypen. Grundsätzlich können sich die oben beschriebenen Anzeichen für Vaterkomplexe aber bei allen Geschlechtern äußern.
Warum wird der Vaterkomplex meist Frauen zugeschrieben, wenn er doch alle Geschlechter betreffen kann? Und warum heißt es Vaterkomplex, wenn doch auch ein gestörtes Verhältnis zur Mutter das erwachsenen Bindungsverhalten beeinflussen kann?
Nun, zunächst werden Frauen, die ängstlich oder anhänglich sind, oder die sich nach Aufmerksamkeit sehnen, viel schneller mit dem Vaterkomplex abgestempelt als Männer. Zudem suggeriert man der Frau, ihre Bedürfnisse wären nicht echt, und nach Zuneigung und Aufmerksamkeit zu verlangen wäre eine Störung. Dies ist ein besonders einfacher Weg, die Bedürfnisse und den Selbstwert von Frauen kleinzuhalten und sie gleichzeitig zum Zentrum des Problems zu machen.
Denn der Verursacher oder auch die meheren Verursacher der Komplexe und Bindungstrauma, also der Vater oder die Eltern sind dann nicht länger Thema. Die popkulturelle Diskussion rund um Daddy Issues spricht von der Frau, die klammert oder von der Frau, die sich nicht binden kann. Die Rolle des Vaters wird zwar erwähnt, aber nicht weiter erläutert.
Dabei wäre es so wichtig, die Bindungstraumata von Frauen und Männern wirklich ernst zu nehmen. Die oben erwähnten Anzeichen können sich noch weiter in ein Depressionsrisiko oder mögliche psychische Erkrankungen steigern. Anstatt also zu voreilig zu Begriffen wie Daddy Issues zu greifen, können wir uns alle vornehmen Bindungstraumata zu hinterfragen und möglicherweise Betroffenen unsere Hilfe anzubieten.