Unsere Autorin hat – wie viele Frauen – nicht nur eine Waage im Badezimmer, sondern auch im Kopf. So bestimmt das Gewicht (inklusive Schwankungen) ihr Leben. Warum das aufhören muss.
Vor ein paar Monaten kaufte ich ein paar Fotoalben. Ich wollte Ordnung bringen in die Bilderflut, die sich in Kisten, auf Speicherkarten und meinem Smartphone angesammelt hatte: Polaroids aus der Schulzeit, Schnappschüsse von Uni-Partys, Urlauben und Bürofeiern, Fotos von Familienfesten, von meiner Hochzeit und von dem Leben mit Kind. Einen Tag lang saß ich sichtend und sortierend auf dem Boden im Wohnzimmer und hatte am Ende Herzmuskelkater. Nicht nur wegen der vielen Erinnerungen.
1999
Ich bei der Abi-Feier im schwarzen Spaghettiträgerkleid, glücklich, mit der Mädchenschule auch die schwäbische Kleinstadt endlich hinter mir lassen zu können. Wahnsinn, wie dünn ich war! Wie viel wog ich da? 52 Kilo?
2004
Es lief nicht gut. An der Uni. Mit Freunden. In meiner Beziehung. Strandurlaub in Kroatien mit der Familie und exakt ein einziges Foto, auf dem ich zu sehen bin. Mit Doppelkinn.
2011
Hochschwanger auf der Schlossalm in Bad Gastein, einen Monat vor der Geburt meiner Tochter. Warum war ich damals mit meinem Körper eigentlich so unzufrieden? Bis auf den kugelrunden Bauch hatte ich eine Superfigur. Und hatte mein Frauenarzt mich nicht gelobt, in der Schwangerschaft nur zehn Kilo zugenommen zu haben?
2015
Mit Mann und Tochter im Biergarten an einem der letzten schönen Herbsttage. Ich – blass und schmal im Gesicht: Nach einem Zeckenbiss war ich wochenlang krank gewesen und passte hinterher in Klamotten, die ich zuetzt vor der Schwangerschaft trug. Exakt 66 Kilo.
In den Rückblick auf das Auf und Ab meines Lebens mischte sich an jenem Tag immer wieder der Blick auf das Auf und Ab meines Gewichts. Abends lag ich im Bett und fragte mich, wo mein Problem lag. War ich so oberflächlich? Gestört? Oder war das normal? Ich fürchte, die Antwort liegt irgendwo in der Mitte.
Angeblich machen sich acht Prozent der deutschen Frauen keinen Kopf um ihre Figur. Zu den übrigen 92 Prozent scheinen alle Freundinnen, Bekannten und Kolleginnen in meinem Umfeld zu zählen, darunter Junge und Ältere, Dicke, Dünne und Normalgewichtige, Mütter wie Kinderlose: Wenn sie sich selbst sehen, sehen sie – genau wie ich – ihr Gewicht. Sogar wenn sie es gar nicht so genau kennen, weil sie ihre Waage vor Jahren entsorgt haben. Jede von uns weiß, wie viel sie zu welchem Zeitpunkt ihres Lebens ungefähr gewogen hat, oft sogar bis aufs Kilo genau. Letztens erzählte die Trainerin in meinem Pilates-Kurs, sie wiege inzwischen wieder fast genauso wenig wie vor zwanzig Jahren, als sie ihren Mann kennenlernte – 63 Kilo. Ich war beeindruckt und merkte erst später, wie absurd das eigentlich ist: Wir sind froh über die Weisheit, Reife und Stärke, die wir im Lauf unseres Lebens gewinnen, und schielen gleichzeitig auf jedes zusätzliche Pfund Körpergewicht.
Man muss kein Psychologe sein, um zu verstehen, warum sich das persönliche Jo-Jo im Gedächtnis verankert hat und warum unsere Gewichtsbiografie untrennbar mit unserer Lebensgeschichte verwoben scheint. Frauenkörper stehen in unserer Gesellschaft unter Beobachtung. Nicht nur die der Promis und auch nicht nur in den Medien. Ich habe noch nie gehört, dass sich Männer mit „Wow, hast du abgenommen?“ begrüßen. Als Frau ist man solche Kommentare nicht nur gewöhnt, sondern kommentiert munter mit, auch und besonders kritisch, wenn es um die eigene Figur geht.
„Früher war den Leuten bewusst, dass das ein Problem ist“, sagt die britische Psychotherapeutin Susie Orbach, die sich seit vier Jahrzehnten (!) mit dem weiblichen Körper beschäftigt. Heute gelte die Auseinandersetzung mit dem Gewicht als normal, weil wir ständig von Körperbildern umgeben seien. 2000 bis 5000 sind es pro Woche, hat Susie Orbach ermittelt. Die Zahlen stammen aus dem Jahr 2009, als Pinterest und Co. noch nicht existierten, und dürften inzwischen höher liegen. Im Netz hab ich neulich gelesen: Wie viel wiegt ein Hipster? – Ein Instagramm.
Galgenhumor, schon klar. Bleibt einem ja nicht viel anderes übrig. Die Waage aus dem Bad zu verbannen – sinnlos, wenn man ein Exemplar im Kopf rumschleppt. Diskussionen über die Darstellung weiblicher Körper in unserer Gesellschaft sind wichtig, keine Frage. Aber mir fehlt der Idealismus (oder die Naivität?), um ernsthaft zu glauben, in absehbarer Zeit könnte sich daran etwas ändern. Auch wenn die Berlinerin Paula Lambert diesen Herbst ein sympathisches Buch zum Thema Körperbewusstsein geschrieben hat, das sich erfreulicherweise gut verkauft („Finde dich gut, sonst findet dich keiner“, Heyne). Ich fürchte, so weit bin ich noch nicht. Neuerdings spare ich mir aber Kommentare über das Aussehen und die Figur anderer Frauen. Meine Hoffnung: Vielleicht schiele ich dadurch auch weniger auf mein eigenes Gewicht.
Für die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester habe ich mir vorgenommen, das Fotoalbum-Projekt voranzutreiben. Mit den Bildern Erlebnisse zu verbinden statt mein Gewicht – das ist zumindest mein Ziel. Mal sehen, ob es funktioniert.