Ein Treffen mit der herrlich schrägen Schauspielerin Helena Bonham Carter ist amüsant, aber auch lehrreich.
Ganz schön laut, das Rascheln vom Papier der vielen Schokoriegel, die vor ihr auf dem Tisch liegen. Und die sie, einen nach dem anderen, mit kleinen zarten Händen aus ihrer Knisterverpackung wickelt. Leider passiert das direkt über dem Mikrofon des Diktiergeräts, das danebenliegt, was es später stellenweise unmöglich macht, das Interview abzuhören. Egal. Ist ja so ein bisschen Helena Bonham Carters Mantra: Egal. Sie spricht mit vollem Schokoladenmund, flucht mit shit und fuck und wirft immer wieder dieses rauchige Stakkato-Lachen dazwischen, das Colin Firth, ihr Filmpartner aus „The King’s Speech“, einmal sehr liebevoll als das „dreckigste Lachen überhaupt“ beschrieben hat. Nichts scheint bei der Britin, die aus dem vornehmen jüdischen Londoner Viertel Golders Green stammt, auf den ersten Blick besonders ladylike zu sein, bis man merkt:
Eine souveräne „So what“-Haltung hat mehr Stil als jeder halbherzige Hofknicks.
„Müssen wir wirklich?“, fragt Helena Bonham Carter und legt die Stirn in Falten. Über ihre Person reden, meint sie. Das klingt zunächst etwas kokett, doch tatsächlich driftet man während des Gesprächs mit ihr immer wieder ab. Was unter anderem daran liegt, dass sie ständig Gegenfragen stellt. „Wer Schauspieler wird, tut das auch, um sich selbst zu entkommen“, sagt sie und setzt nach: „Es macht einfach weniger Spaß, ich zu sein.“ Deshalb tauche sie lieber in andere Charaktere ein. Hilfe bekommt sie dabei von ihrer Mutter, der französisch-spanischen Diplomatentochter und Psychotherapeutin Elena Propper de Callejón, einer Nichte des Bankiers Élie de Rothschild. Mit ihr legt sie seit Beginn ihrer Karriere die psychologischen Profile ihrer Rollen an: „Was ich über die Menschen weiß, hat mir meine Mutter beigebracht“, sagt sie.
Die wichtigste Lektion? „Mitgefühl.“
Denn das habe mit der Fähigkeit zu tun, zuhören zu können. Merke: Nur wer zuhört, erfährt die wirklich interessanten Geschichten.
Wenn eines nicht passieren wird, dann dass die Charakterdarstellerin sich lange mit belanglosem Branchen-Small-Talk mit dem Hollywood-Personal der Stunde aufhält. Lieber bespricht sie mit ihrer Astrologin die Facetten ihres Sternzeichens (Zwillinge). Sonntags geht sie mit Martha zum Yoga. Martha ist Geschichtslehrerin und Bonham Carters engste Freundin seit Kindertagen, von der sie auf der South Hampstead High School die Hausaufgaben abschrieb. „Sie war schon immer klüger als ich“, sagt sie, deshalb habe sie Marthas Nähe gesucht. Außerdem sei sie das komplette Gegenteil von ihr. „Ich vertraue ihrem Urteil, ihrem Humor, und ich kann mich seit 47 Jahren auf sie verlassen.“ In seinem Leben brauche man starke Freundschaften, die einen fordern. Menschen, die einen kannten, als einen sonst noch niemand kannte. Die einem neue Perspektiven eröffnen – eben weil sie anders sind.
„Königin des Korsetts“ nannte man sie früher oder „Englische Rose“, weil die Schauspielerin Mitte der 1980er-Jahre mit lieblichen Kostümrollen berühmt wurde, wie in „Zimmer mit Aussicht“ oder „Lady Jane“. Ein Etikett, gegen das sie ankämpft.
„Ich wollte meine Hülle ändern“, sagt sie, „und das ist mir gelungen.“
Die 1,57 Meter große Frau mit dem rehäugigen Puppengesicht hatte keine Lust, „hübsche Deko“ an der Seite männlicher Kollegen zu sein, und vollzog einen radikalen Typwandel: kahl geschoren und narbengesichtig als Frankensteins Braut, heruntergekommen und kettenrauchend als suizidgefährdete Marla Singer in „Fight Club“, fanatisch-sadistisch als Hexe Bellatrix Lestrange in den „Harry Potter“-Filmen oder als Mrs. Lovett, die im Musicalfilm „Sweeney Todd“ dem rachsüchtigen Johnny Depp hilft, Menschen zu Fleischpastete zu verarbeiten. Das Normale sei für sie uninteressant, sagt Helena Bonham Carter. „Ich mag komplexe Charaktere, bei denen ich herausfinden muss, warum sie sind, wie sie sind.“
Auch in ihrem Film „Wenn dir Flügel wachsen“, der im Mai anläuft, ein ambitioniertes Biopic über die paranoide Schizophrene Eleanor Riese, die um ihr Recht auf Selbstbestimmung kämpft, scheut sich Helena Bonham Carter nicht, bis an die Schmerzgrenze zu gehen. Ihr Spiel ist exemplarisch: eine kompromisslos überzeugende Tour de Force, bei der sich die Emmy-Gewinnerin gleich zu Beginn minutenlang in einem wenig schmeichelhaften Fatsuit kreischend und tretend einen Krankenhauskorridor hinunterzerren lässt, um am Ende völlig entkräftet in ihre Zelle zu pinkeln. Zuerst dachte sie, sie habe sich hier zu viel abverlangt, inzwischen sagt sie:
„Es ist einfacher, etwas wirklich zu durchleben, als nur so zu tun, als ob. Deshalb muss es manchmal wehtun.“
Es falle einem oft genug schwer, sich selbst eine Rolle abzunehmen. Dann müsse man alles dafür tun, diese Zweifel auszuhebeln. Manche mögen dieses Verhalten für extrem halten – das tut Bonham Carter sogar selbst. Man dürfe trotzdem keine Angst vor seinen Gefühlen haben. „Zurzeit bin ich emotionaler, als ich es je war“, sagt sie und lacht. „Das liegt vermutlich an der Menopause.“
13 Jahre lang war die Britin mit dem nicht weniger exzentrischen Regisseur Tim Burton liiert. Mit ihm hat sie zwei Kinder, Sohn Billy Ray and Tochter Nell. Was genau Liebe ist, darauf hat die bald 52-Jährige bis heute keine Antwort gefunden. „Ich arbeite daran“, sagt sie leise.
„Die Liebe kann launisch sein. Aber man darf sich glücklich schätzen, wenn man überhaupt nur ein bisschen von ihr abbekommt.“
Wenn sie etwas gelernt habe, dann dass man sein persönliches Glück nicht bei einem anderen Menschen suchen sollte – sondern bei sich selbst: „Ich habe so viel Zeit damit verbracht, mich selbst zu hassen, mein Gesicht, meinen Körper, meine Rundungen.“ Wenn sie ihrem jungen Ich also einen Rat geben müsste, dann diesen: „Sei netter zu dir selbst. Obwohl, das hätte ich mir genauso gut vor fünf Minuten sagen können.“
Wenn man die Schauspielerin so vor sich sitzen sieht, ertappt man sich irgendwann bei der Frage: Meint sie das eigentlich ernst? Das vogelnesthafte Marie-Antoinette-Haar, der ausladende, rot karierte Vivienne-Westwood-Rock mit gerafftem Bürzel über dem Hinterteil, dazu taubenblaue Plateau-Sneakers, die sie immerhin fünf Zentimeter größer machen. „Ich liebe es, mich zu verkleiden“, sagt sie und meint damit: Schönheit hat nichts mit Norm zu tun.
„Schönheit muss dein Herz zum Lachen bringen. Wir müssen die Tatsache feiern, dass wir alle einzigartig sind, und aufhören, uns ständig anpassen zu wollen.“
Auch wenn das bedeutet, manchmal mit Unsicherheit zu kämpfen. „Ich bin schrecklich unsicher, schon immer“, sagt Bonham Carter, daran habe auch das Älterwerden nichts geändert. Für sie ist das Leben ein heilloses Durcheinander. Die Kunst ist, sich von diesem Chaos nicht kleinkriegen zu lassen.
Mit den Kostümdramen „Zimmer mit Aussicht“ (1985) und „Lady Jane“ (1986) wurde Helena Bonham Carter schlagartig berühmt. 1994 folgte der radikale Bruch mit „Mary Shelley’s Frankenstein“, gefolgt von ihrer gefeierten Darstellung der Marla Singer in „Fight Club“ (1999). Zwei Jahre später lernte sie am Set von „Planet der Affen“ ihren späteren Mann, Regisseur Tim Burton, kennen, der sie immer wieder für skurrile Rollen castete, darunter Mrs. Lovett in „Sweeney Todd“ (2007) und die Rote Königin in „Alice im Wunderland“ (2010). Kultstatus erreichte sie als „Harry Potter“-Hexe Bellatrix Lestrange, für die Rolle der Königin Elisabeth in „The King’s Speech“ (2010) erhielt sie eine Oscar-Nominierung. Dieses Jahr ist sie in „Wenn dir Flügel wachsen“ und „Ocean’s 8“ zu sehen.
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