Ständig bekommen wir Handybilder von kleinen Kindern unter die Nase gehalten – auch wenn wir sie oder sogar nicht mal die Eltern kennen. Muss man sich dennoch zu einem „Och, wie süüüß!“ hinreißen lassen?
Unser Sohn war zarte neun Monate alt, als seine geistreichen, ungeheuer lang bewimperten Mandelaugen ein ihnen unbekanntes Gesicht erblickten, das sich über den Kinderwagen beugte. „Okay“, sagte das Gesicht, „der verhungert Ihnen ja nun auch nicht.“
Wir erörterten, was die sympathische Supermarktbedienstete mit ihrer Einlassung gemeint haben könnte. Dass wir unserer Rolle als Ernährer in hervorragendem Maße nachgekommen waren? Dass das hier vorliegende Kind vor kerniger Gesundheit nur so strotzte? Dass wir den soeben eingepackten Kartoffelbrei mit Möhrchen wieder zurückstellen sollten, weil er den Anforderungen an linksdrehender Biodynamik nur unzureichend genügte? Am Ende mussten wir uns eingestehen, dass die Supermarktbedienstete unseren Sohn soeben einen unansehlichen Fettsack genannt hatte. Es traf ihn und uns unvorbereitet. Wir waren entsetzt.
Die Antwort auf die Frage lautet übrigens: Nein. Man muss die Babys anderer Leute nicht süß finden, allein schon deshalb, weil es der statistischen Wahrscheinlichkeit widerspräche. Es gibt in Deutschland großzügig gerechnet etwa acht bis zehn hübsche, fröhliche, rücksichtsvolle, also süße Babys, alle anderen sind Schichtarbeiter des Terrors. Einige der unangenehmsten Substantive unserer Zeit haben ihren Ursprung nicht zufällig im Babyalter: Rotz. Schorf. Kaka. Bäuerchen. Pastinakenbrei. Ganz zu schweigen von den Verben: sabbern, brabbeln, quengeln, plärren, nässen, spucken. Babys tyrannisieren nicht nur ihre Umwelt, sie verhexen auch ihre Eltern (die einmal vernünftige Menschen waren, mit denen man reden konnte) in kuhäugige Mutter- und Vatertiere, mit denen jenseits der Tragetuch-Debatte nichts mehr anzufangen ist. Und vor so einer dahergekrabbelten Terrorzelle soll man niederknien und „Oh, wie süüüß!“ rufen? Bewahre.
Die Frage ist nur: Was sagt man stattdessen? Sagt man „Menschenskind, das ist aber ein unansehliches kleines Ding da in Ihrem Kinderwagen, das tut mir jetzt echt leid für Sie“? Sagt man „Machen Sie sich nichts draus, ich war auch ein schlimmes Schreikind, das vergeht irgendwann“? Oder: „Wo ich gerade Ihr Baby sehe – wussten Sie, dass die Geburtenrate in Papua-Neuguinea gerade wieder gesunken ist?“ Oder klappt man den Kiefer zusammen, wiegt den Kopf ein wenig hin und her und sagt – nichts?
Ja, eben! Geht alles nicht! Weil die Aussage „süß“ im Kontext eines spuckenden, plärrenden, Kaka machenden Babys eine gesellschaftliche Konvention ist, vergleichbar etwa mit „Guten Morgen“ oder „Mit freundlichen Grüßen“. Wird erwartet, muss nicht stimmen, hat insofern auch nichts weiter zu bedeuten.
Nicht überzeugt, ihr Wahr-Sager da draußen? Come on! Wo ihr der guten Freundin doch neulich erst zugeflötet habt, dass sie „super“ aussehe, obwohl das Kleid die Vollkatastrophe war und das Make-up zu dick aufgetragen. Dem Chef, der die ganze Woche lang brutal genervt hat, habt ihr ein „Schönes Wochenende“ auch nicht wirklich gewünscht. Warum tut ihr euch bei den Babyeltern so schwer? Sie sind blind, verhext und checken nichts. Also reißt euch zusammen. Setzt euer schönstes Lächeln auf. Fasst euer nicht vorhandenes Entzücken in Worte. Sagt: „Oh, wie süüüß.“ Wirklich, es ist okay. Eltern brauchen das. Tut ihnen den Gefallen.
Vor Kurzem haben wir übrigens mal wieder Babybilder von unserem Sohn angeschaut (der inzwischen ein hinreißender Achtjähriger ist – bildhübsch, hochintelligent, als Linksverteidiger ein Ausnahmetalent). Nach ein paar hundert Fotos hatten wir seine Neun-Monate-Phase erreicht. Wir sahen uns an und sagten nichts. Wir dachten es bloß. Oh Gott, war der fett.