Es gibt Menschen, die fühlen sich an wie seelische Blutsauger. Man trifft sich mit einer Freundin zum Mittagessen und hat danach das Gefühl sich hinlegen zu müssen. Oder man verbringt einen Sonntag mit einem guten Freund und braucht danach mindestens eine Woche Abstand. Wenn man nach einem Treffen das Gefühl hat, erschöpft, ausgelaugt und energielos zu sein, dann ist dies ein deutliches Warnsignal, dass die Beziehung zu diesem Menschen nicht guttut. Aber ab wann ist eine solche Freundschaft wirklich toxisch? An welchen Warnsignalen erkennt man sie? Und wann sollte man einen Schlussstrich unter eine toxische Freundschaft ziehen?
Wir haben all diese Fragen einem Experten gestellt. Dr. Karsten Wolf ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und ärztlicher Leiter der Libermenta Klinik Schloss Gracht. Hier arbeitet er mit Patienten auf vielseitigen Behandlungsfeldern von Depression, Burnout, Angst- und Zwangsstörungen über Trauma-Folgeerkrankungen bis hin zur dissoziativen und bipolaren Störung. Mit uns hat er über toxische Freundschaften gesprochen.
Das lässt sich einerseits zwar recht einfach erklären, aber gleichzeitig auch nicht so simpel beantworten, denn, wie Dr. Karsten Wolf erklärt, ist „‘toxische Freundschaft’ kein Fachausdruck, sondern wird aktuell im allgemeinen Sprachgebrauch für eine Freundschaft verwendet, die mindestens einem der beiden Freunde ‘nicht gut tut’, also ‘Leiden’ hervorruft.” Klingt erstmal logisch, doch wie äußert sich dieses Leiden? Inwiefern ist eine freundschaftliche Beziehung für eine Seite toxisch und für die andere eine gesunde Freundschaft?
„Wenn heutzutage (insbesondere junge) Menschen von einer toxischen Freundschaft berichten, meinen sie überwiegend Freundschaften, bei denen eine Seite mehr nimmt und die andere Seite mehr gibt, die Freundschaft also allzu sehr unausgewogen ist.”, erklärt Dr. Karsten Wolf. Er führt zudem weiter aus: „Psychologisch betrachtet kann man grob sagen, dass jede Form von Beziehung (bis auf eine Ausnahme, dazu kommen wir weiter unten) energetisch einigermaßen ausgewogen sein muss, um dauerhaft gut und nachhaltig zu sein.” Kurz zusammengefasst beschreibt Dr. Karsten Wolf eine gesunde Freundschaft so:
„Geben und Nehmen müssen einigermaßen ausbalanciert sein.” Ist dies nicht der Fall, wird die Freundschaft für eine Seite belastend, energieraubend und eben toxisch.
Trotzdem gibt es Ausnahmen. Dr. Karsten Wolf erklärt, dass in manchen Fällen eine Freundschaft durchaus auch funktionieren kann, wenn sie energetisch nicht ganz ausgeglichen ist. „Es gibt durchaus Freundschaften, in denen eine Seite (von außen betrachtet) offensichtlich tendenziell mehr gibt als die andere Seite und trotzdem beide Seiten sich in der Freundschaft wohl und gesund fühlen – das hängt mit unterschiedlichen Persönlichkeiten zusammen.”
Ob eine Freundschaft toxisch oder harmonisch ist, hängt also auch immer davon ab, wie die beiden Persönlichkeitsbilder zusammenspielen. Dr. Karsten Wolf beschreibt die Typen so: „Persönlichkeiten mit einem Überwiegen von Bindungs- und Schutzbedürfnis sowie ein eher ängstlich-vermeidender Persönlichkeitstypus.” Sie fühlen sich trotz eines unausgeglichen Verhältnisses von Geben und Nehmen in einer Freundschaft wohl. „Diese Menschen benötigen, um sich wohl und gesund zu fühlen, vornehmlich Sicherheit durch Bindung, der sie sich immer wieder versichern müssen. Nicht selten vermitteln stark wirkende und dominante Persönlichkeiten diese ersehnte Sicherheit”, so Dr. Karsten Wolf. Während die einen Sicherheit brauchen, sind die anderen Beschützer. Was dann passiert: „Das Individuum mit Bindungs- und Sicherheitsbedürfnis investiert entsprechend viel Energie in die Freundschaft. Hält das Gegenüber das Versprechen von Sicherheit, so können sich beide Seiten wohlfühlen, obgleich es von außen betrachtet etwas unausgeglichen scheinen kann.”
Nun gibt es laut Dr. Karsten Wolf aber auch Persönlichkeiten, die besonders häufig als toxischer Part in Freundschaften empfunden werden:
„Ein ‘Mehr Nehmen als Geben’ findet sich insbesondere bei Menschen, die gerne im Mittelpunkt stehen wollen, die egoistisch sind, die immer eine Bühne für sich und ihre Inszenierungen brauchen, die zudem wenig empathisch sind, immer ihren Eigennutz im Blick haben, manchmal besonders berechnend und auch manipulativ sein können.”
In diesen Fällen lässt sich das Phänomen des*der toxischen Freund*in auch mit Fachbegriffen beschreiben: „In der Psychiatrie können solche Persönlichkeiten je nachdem als hysterisch, narzisstisch, dissozial, soziopathisch oder gar psychopathisch bezeichnen werden.”
Es gibt auch ganz typische Verhaltensmuster für diese Persönlichkeitstypen, wie Dr. Karsten Wolf beschreibt: „Dieses ‘mehr nehmen’ stellt sich auf dem Boden solcher pathologischer Züge dann entweder in einem starken ‘egozentrischen Klammern’ an die Freundschaft, oder in einer ausgeprägten ‘Distanziertheit’ in der Freundschaft dar.
An diesem Punkt einer Freundschaft geschieht schließlich das, was wir eingangs beschrieben haben. Die toxische Persönlichkeit wird für den anderen zum vermeintlichen seelischen Blutsauger: „In solchen toxischen Freundschaften fühlt sich die ‘geschädigte’ Seite irgendwann zumeist ausgelaugt, energetisch wie von einem Vampir ausgesaugt, wie Betroffene die Beziehung häufig beschreiben.”
Sind Vampire also wie Warnsignale für toxische Freund*innen? Wie erkennt man eine toxische Freundschaft? Übermäßiges Unwohlfühlen in der Freundschaft, ist für Dr. Karsten Wolf ein ganz klares Warnsignal, dies kann für jede*n unterschiedliche Ausmaße und Facetten haben. Wenn dem Einzelnen die Unausgewogenheit von Geben und Nehmen auffällt, sie also nicht mehr nur von außen sichtbar ist, wie weiter oben beschrieben, dann kann man von einer toxischen Freundschaft sprechen. Doch was passiert dann? Was, wenn man sich inmitten solch einer Blutsauger-Freundschaft befindet? Bedeutet, dies das Ende der Freundschaft? Auch dies kommt wiederum auf die Persönlichkeit, des jeweils anderen an, sagt Dr. Karsten Wolf:
„Solche Toxizität hält an, wenn der Betroffene nur schwerlich loskommt von der Freundschaft, z.B. weil das Bindungs- und Sicherheitsbedürfnis allzu ausgeprägt ist und die Angst vor dem Allein- und Unsichersein so groß ist, dass selbst großes Leiden zu lange ertragen wird.”
Hingegen, wenn dies nicht der Fall ist und man versucht die Freundschaft zu beenden, „dann reagieren toxische Freunde meist mit überzogener und dramatisierender Reue und sehr vielen großen Versprechungen, was sie alles verbessern wollen – mit dem häufigen Resultat, dass am Ende alles wieder von vorne losgeht.”
Übrigens gibt es auch in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen toxische Formen. So ist beispielsweise die Eltern-Kind-Beziehung eine Ausnahme zu dem weiter oben genannten Geben-und-Nehmen-Prinzip, wie Dr. Karsten Wolf erklärt: „Hier muss unbedingt das Prinzip der Einbahnstraße eingehalten werden, und zwar in jedem Lebensalter: Eltern müssen ihren Kindern ein Leben lang bedingungslose Liebe geben, Kinder müssen ihren Eltern ein Leben lang nie zwingend etwas zurückgeben, sondern müssen die Liebe ihren eigenen Kindern bedingungslos weitergeben. Natürlich geben Kinder ihren Eltern häufig auch etwas zurück, im Alter, in der Pflege, aber dieses Zurückgeben darf nie, auch nicht gedanklich, erzwungen sein oder erzwungen werden. Wenn Eltern explizit etwas von ihren Kindern zurückverlangen, im schlimmsten Fall Liebe und Zuwendung, sind Probleme in der Eltern-Kind-Beziehung und – schlimmer noch – in der Beziehungsfähigkeit der Kinder vorprogrammiert.”
Klingt drastisch, doch Dr. Karsten Wolf warnt vor derartigen toxischen Eltern-Kind-Beziehungen: „Deshalb kann und darf es auch nicht dazu kommen, dass Kinder die besten Freunde der Eltern sind, das ist nicht möglich und nicht gesund, denn das wären dann auch toxische Freundschaften!”
Natürlich können auch romantische Beziehungen toxisch sein. Wie sich toxische Partner*innen erkennen lassen und wie man mit ihnen umgeht, haben wir hier weiter ausgeführt.
Mehr Informationen zum Thema gibt es in diesem Video:
Dr. Karsten Wolf hat eigentlich eine ganz klare Lösung parat: Kommunikation.
„Kommunizieren und die Probleme benennen. Das Bild des „Geben und Nehmen“ versteht jeder und auf diesem Bild basierend kann ein Austausch über die vermeintlich toxische Freundschaft einer Unausgewogenheit stattfinden.”
In vielen Fällen lässt sich die Freundschaft, dann wieder ins Gleichgewicht bringen, sobald beide Seiten die Situation verstanden haben: „Häufig lassen sich Unausgewogenheiten gut korrigieren, da sie sich oft nur aus der Gewohnheit heraus eingeschlichen haben. Wenn man miteinander vereinbart, dass man immer sofort (!) kommuniziert, wenn man wieder den Eindruck von Unausgewogenheit hat, bietet man eine einfache Möglichkeit die Freundschaft zu erhalten.”
Ist das Ungleichgewicht allerdings auf eine hysterische, narzisstische, dissoziale, soziopathische oder gar psychopathische Persönlichkeit in der Freundschaft zurückzuführen, dann kann man selbst mit klarer und ehrlicher Kommunikation nichts mehr ausrichten. „In Extremfällen wie den beschriebenen „krankhaften Vampiren“, die unter Hysterie, Narzissmus, etc. leiden, ist die Pathologie so ausgeprägt, dass zumeist zunächst ein Abbruch der Freundschaft nötig ist”, so Dr. Karsten Wolf.
Selbst wenn man selbst in der Rolle des*der “ausgenutzten” Person ist, sind solche Trennungen schmerzhaft und nie einfach. Gäbe es nicht die Möglichkeit dem anderen Hilfe anzubieten, sodass eine toxische Freundschaft, sich wieder zu einer gesunden freundschaftlichen Beziehung entwickeln kann?
Wiederum empfiehlt Dr. Karsten Wolf als ersten Schritt ein klärendes, offenes Gespräch: „Man sollte mit dem*der betroffenen Freund*in sprechen und den eigenen Eindruck der toxischen Freundschaft darlegen. Auch hier bietet sich das einfache Bild des ‘Geben und Nehmen’ an.” In diesem Gespräch ist es wichtig, das gekippte Gleichgewicht in der Freundschaft für den*die andere*n zu veranschaulichen. Dabei helfen auch konkrete Beispiele: „Wenn man Dinge, Phänomene und Erlebnisse in Worte zu fassen vermag, kann man sie meist besser verstehen und ist in der Lage sie differenzierter zu betrachten.”
Dabei darf man auch seine Gefühle in der Freundschaft beschrieben: „Neben der Betrachtung des Geben und Nehmens ist auch die Betrachtung des möglichen ‘Leidens’ unter der Freundschaft wichtig,” und muss laut Experte besprochen werden. Im Gespräch kann man gemeinsam „herauszuarbeiten, ob die von Außen gesehene Unausgewogenheit vielleicht für beide dennoch ein emotionaler Gewinn ist.” Gerade in Freundschaftsbeziehungen, in denen ein Part bereit ist mehr Energie in die Freundschaft zu investieren, um im Gegenzug zum Beispiel Sicherheit zu gewinnen, ist es wichtig über eben dieses Verhältnis zu sprechen. In dem Gespräch kann jeder Part seine Gefühle und seine Rolle beschreiben und Grenzen setzen, dies hilft dem gegenseitigen Verständnis.
Sollte trotz offener Kommunikation noch kein gegenseitiges Verständnis entstehen, ist es in Ordnung und sogar wichtig sich aus der Freundschaft zurückzuziehen. Die Trennung kann sich dabei genauso schmerzhaft anfühlen wie bei einer festen Beziehung.
Dr. Karsten Wolf betont, dass Selbstschutz absolut notwendig ist. Wann entscheidet jeder selbst. „Je größer das empfundene Leiden, desto eher muss man sich schützen.” Schließlich gibt es laut dem Experten auch ganz extreme Fälle: „Tritt in die toxische Freundschaft auch noch Suchtverhalten, wie Alkohol, Drogen, Spielsucht oder ähnliches, hinein, ist besondere Vorsicht angezeigt. In toxischen Partnerschaften, aber auch in Freundschaften kann zusätzlich der Faktor der körperlichen Gewalt hinzukommen, der sofort zum Handeln zwingen sollte.”
Soweit muss es gar nicht erst kommen. Dr. Karsten Wolf stellt klar, dass die Freundschaft nicht mehr gut, „wenn sich eine Person über längere Zeit nicht mehr wohlfühlt in der Freundschaft und wenn die Person unter der Unausgewogenheit leidet.” Dann wird es Zeit, die Freundschaft zu beenden. Oder zumindest vorübergehend zu pausieren, um Abstand zu gewinnen.
Laut Experten lohnt es sich zwar zu kämpfen, doch schließlich auch zu erkennen, wann der Kampf verloren ist. Dr. Karsten Wolf rät zunächst durch Gespräche an der Freundschaft zu arbeiten: „Sollten Versuche der Kommunikation und Versuche der Balancierung über einen hinreichenden Zeitraum keinen Erfolg haben, und sollten insbesondere Süchte und/oder Gewalt zunehmend die Freundschaft bestimmen und das Leiden zunehmen, dann sollte ein vorübergehender oder endgültiger Schlussstrich gezogen werden.”
Wird das Leid des Einzelnen schließlich größer als der Wunsch die Freundschaft zu retten, dann gilt dies als Signal, die Freundschaft zu beenden. Für beide Seiten keine einfache Situation, aber vor allem für den*die verlassene*n toxische*n Freund*in ein schweres Los. Steckt man nun in dieser Situation, gibt es wiederum Wege, die Freundschaft eventuell zu retten.
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„Wenn man selber an sich bemerkt, dass man zu mehr Nehmen als Geben neigt und sich eine solche Tendenz in Freundschaften und Beziehung immer wiederholt, dann hat man eine Chance im offenen kommunikativen Austausch mit dem*der Freund*in.” Hat sich der*die andere noch nicht ganz abgewandt, gilt also auch für diese Seite der Freundschaft, der Schlüssel zum Erfolg lautet wieder: Kommunikation.
„Durch ständiges Feedback des Anderen ist es möglich seine eigene toxischen Neigung zu korrigieren.” Wie bereits weiter oben erklärt, ist diese Möglichkeit immer abhängig von der eigenen Persönlichkeit. So empfiehlt Dr. Karsten Wolf in solchen Fällen professionelle Hilfe anzunehmen: „Ist die eigene Toxizität so ausgeprägt, dass Freundschaften und Beziehungen ständig sehr schnell und leidvoll enden und man selber zunehmend unter seiner toxischen Tendenz leidet, dann hilft insbesondere auch professionelle psychotherapeutische Begleitung, als Coaching oder als Behandlung.”