Vierfach-Mutter Michele Macfarlane leidet an der seltenen Augenkrankheit Retinitis pigmentosa: Sie wird bald blind sein. Dagegen tun kann sie nichts, außer vorzusorgen – und noch ein paar letzte Eindrücke zu sammeln.
Michele Macfarlane steht in ihrer Küche in Hout Bay bei Kapstadt und macht Tee. Sie wirkt sportlich und sehr jung, das mag am lässigen T-Shirt-und-Turnschuh-Look der 49-Jährigen liegen. Und an der Art, wie sie sich bewegt – durchtrainiert, mit der aufrechten Haltung einer Turnerin. An ihren Gesichtszügen sieht man, dass sie viel lacht. Vom Küchenfenster aus blickt man auf einen großen Garten, dahinter der Tafelberg und das Meer. Ein privilegiertes Leben. Wer hier wohnt, muss ein glücklicher Mensch sein.
Wären da nicht die vielen Klebeetiketten in der Küche. Darauf steht „Kaffee“ oder „Tee“. Hinweise für ihre Familie, alles immer an exakt denselben Platz zurückzustellen. Denn Michele ist fast blind. Die vierfache Mutter findet Dinge nur nach diesem System. „Man muss kreativ werden, wenn das Licht ausgeht“, sagt sie lächelnd.
Michele hat die Augenkrankheit Retinitis pigmentosa (RP), bei der die Netzhaut von den Rändern her abstirbt – inzwischen hat sie nur noch sieben Prozent Sehkraft, ein Blick wie durch einen Strohhalm. Man könnte das als böse Ironie des Schicksals auslegen: Es sind ausgerechnet ihre großen blauen Augen, die einem als Erstes auffallen. Und der konzentrierte Blick, mit dem sie ihr Gegenüber fixiert. Was Michele nicht genau im Fokus hat, kann sie nicht sehen. Es ist ein grausamer Abschied von der Welt, den sie meistern muss.
„Mit jedem Prozent Sehverlust spüre ich Panik in mir hochsteigen“, sagt sie, Stück für Stück entgleitet ihr da etwas. Sie stellt sich Fragen, die ihr niemand beantworten kann: Wie lange habe ich noch? Sehe ich das hier jetzt zum letzten Mal? Was muss ich noch erledigen? Michele ist ein furchtloser Mensch, „aber manchmal hat mich die Angst ganz schön im Griff“.
Sie klingt trotzig, als sie das sagt, sie will sich nicht einfach fügen. Dass ausgerechnet eine so extrovertierte, energische Frau, die Schauspiel und klassischen Gesang studiert hat, jetzt schwach und hilfsbedürftig sein soll. Sie ist Kämpferin, nicht Opfer. So will sie wahrgenommen werden.
„Man darf sich nicht auf die Tragödie konzentrieren“, sagt Michele. „Heulen hilft ja nicht.“ Sie lehnt sich zurück und fährt mit der einen Hand durch ihre Haare, die andere tastet nach der Teetasse. Man spürt ihre Verletzlichkeit. Dem erbarmungslosen Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, hat Michele eine bucket list entgegengesetzt. „Wie jemand, der bald stirbt.“ Sie ist entwaffnend direkt. Das gibt ihr einen Vorsprung vor dem Mitleid der anderen.
Ihre Liste liest sich wie eine Unabhängigkeitserklärung. Ein Fitness-Wettbewerb steht darauf, sie belegte den zweiten Platz. Sie ging paragliden, gerade weil sie unter Höhenangst leidet. Neulich wanderte sie eine Woche lang durch die Wildnis Südafrikas, über felsige Berge, durch Schluchten und Flussbetten. Ihren Blindenstock nutzte sie als Wanderstock. Nach solchen Herausforderungen fühlt sie sich stark, im Kopf und im Körper.
Was sie durch die schlimmste Zeit trägt: das Gefühl, anderen Menschen Kraft zu geben. Einer der schönsten Sätze sei: „Toll, dich dabeizuhaben. Du bist eine Inspiration.“ Klar, die Probleme der anderen wirken im Vergleich zu ihrem geradezu läppisch. Leise sagt sie: „Ich merke, dass ich etwas geben kann, etwas wert bin.“ In ihrer Situation bedeute das für sie die Welt.
Michele inhaliert das Leben, sie will mitnehmen, was geht, will alles spüren, den Wind, die gleißende Sonne, die mächtigen Berge. Sie will sehen und gesehen werden. Als Nächstes möchte sie an einem Triathlon teilnehmen. Je kleiner ihr Sichtfeld, desto größer werden ihre Schritte. Sie ist nicht zu bremsen, „unstoppable“, sagt ihre Familie.
Michele war 14 Jahre alt, als sie erfuhr, dass sie die Krankheit hat, ebenso wie ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Ian. Beide haben sie vom Vater geerbt. Auf die Diagnose habe sie eher gelassen reagiert, erinnert sie sich. Der Vater habe ein normales Leben geführt, die Krankheit verlief bei ihm extrem langsam. Bei beiden Kindern sollte es sich anders entwickeln. Ian hat nur noch zehn Prozent seiner Sehkraft.
Michele registrierte mit Mitte 30 zum ersten Mal, dass sich etwas verändert. Sie stieß sich häufig, lief gegen Türstöcke. Schließlich machte sie einen Sehtest. Ergebnis: Sie hatte nur noch ein Drittel ihrer Sehkraft. „Es war ein absoluter Schock. In diesem Moment begriff ich, dass ich blind werde.“ Michele fuhr nach Hause und weinte. Stundenlang.
Aber sie ist nicht der Typ, der sich lang mit Trauer aufhält. Ihr war klar, dass sie sich der Situation stellen musste. Sie begann, blinde Menschen genau zu beobachten. Wie bewältigen sie den Alltag – und wie das Leben? Der entscheidende Schritt für Michele war zu akzeptieren: Das bin ich. So ist das jetzt. Sie musste aufhören, sich ständig um die Zukunft zu sorgen. „Das würde mir das Jetzt nehmen.“
Und sie musste lernen, sich von den Panikwellen nicht in die Tiefe reißen zu lassen. Stattdessen: durchatmen, weitermachen. Manchmal bewegt sie sich mit verbundenen Augen durchs Haus, übt Zähneputzen oder Nudelnkochen. Sie will sich beweisen, dass ihr neues, anderes Leben machbar ist, dass sie vorbereitet ist auf die Dunkelheit. Inzwischen reißt sie sogar Witze darüber: „Im Moment lande ich noch regelmäßig in der Notaufnahme.“
Gerade schreibt sie einen Katalog mit detaillierten Naturbeobachtungen. Für die Zeit danach, wenn sie nicht mehr sehen kann. Den Sonnenschein, der durch die Zweige eines Baumes fällt. Einen Adler, der mit einer Schlange im Schnabel über ihrem Grundstück kreist. Die Berge von Hout Bay, die das Abendlicht rosa färbt. Poesie, in denen die Traurigkeit verpackt ist, die sie sonst so tapfer von sich fernhält. Aber das gelingt nicht immer. Die Vorstellung von Verlust und Leere ist zeitweise kaum auszuhalten.
Am unerträglichsten ist der Gedanke, dass sie ihre Kinder nicht mehr sehen wird. Aber, setzt sie sofort hinzu, sie habe Glück, dass sie mit 23, 21, 16 und neun Jahren schon relativ groß seien. Sie werden der Mutter ihr Leben dann eben beschreiben müssen. „Ich habe mir vorgenommen, diesen Abschiedsschmerz erst zu durchleben, wenn es so weit ist. Sonst findet er kein Ende.“ Sie weiß nicht, ob sie ihre Krankheit Retinitis pigmentosa an die Kinder weitergegeben hat. Noch hat sich keines testen lassen. Auch deshalb bemüht sie sich, optimistisch zu bleiben. Blind sein ist nicht das Ende der Welt. Sich gehen lassen keine Option.
Michele ist geschieden von ihrem Mann und lebt heute mit einer Partnerin zusammen. „Jemanden wie mich zu lieben ist ein echtes Bekenntnis." Auch deshalb ringt sie darum, in ihrer immer kleiner werdenden Welt nicht mitzuschrumpfen und zu verbittern. Michele will eine blinde Frau sein, die man gern um sich hat. Niemand soll sie als Last empfinden. Auch für ihre berufliche Zukunft hat sie vorgesorgt und eine Ausbildung als Craniosacral-Therapeutin gemacht, eine Form der Osteopathie. Dabei sind die Hände wichtiger als die Augen. Michele wird ihren Weg finden. Auch im Dunkeln. Auch mit Retinitis pigmentosa als ständiger Begleiter.
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