Nina ist verheiratet und hat Kinder. Doch schon immer spürte sie eine Lücke in ihrem Leben. Bis sie Johanna trifft und sich mit über 40 noch einmal verliebt. Die Geschichte eines späten Coming Outs ...
„Es ist so eine Sache mit der Wahrheit: Hat man sie einmal erkannt, kann man sie nicht mehr ignorieren“, schrieb Elizabeth Gilbert (Autorin des Bestsellers "Eat, Pray, Love") einmal auf ihrer Facebook-Seite. Gerade wenn es um die Liebe geht. Aus dem unscheinbaren Kollegen kann plötzlich der Traummann werden; aus dem guten Freund, mit dem man über alles spricht, der Geliebte. Plötzlich kommen Gefühle an die Oberfläche, die da nie waren. Manchmal braucht die Liebe eben ihre Zeit. Und ab und zu kommt alles auch ganz anders.
Die vermeintlich plötzliche Zuneigung zu einer Frau ist ein Phänomen, das wir heute öfter beobachten. Weil niemand mehr seine Gefühle unterdrücken muss – wie Nina*, die vollkommen unerwartet die Frau fürs Leben findet. Es beginnt ganz beiläufig, als Nina auf dem Gang kräftige Schritte und eine laute Stimme hört und denkt: Wow, was für eine Frau! Nina hat sich für einen Job im sozialen Bereich beworben und wartet auf ein Gespräch mit ihrer künftigen Chefin Johanna*. „Alles an ihr ist ein bisschen groß, die Augen, die Lippen, die Nase. Und sie ist nicht zu überhören“, so beschreibt Nina sie sechs Jahre nach ihrer ersten Begegnung.
Damals weiß Nina noch nicht, dass sie sich verliebt hat. Sie ist eine zierliche, blonde Frau mit wachen, blauen Augen, die ihre Worte genau abwägt. Zunächst interpretiert sie es als rein fachliches Interesse, dass sie immer in Johannas Nähe sein will. Von dieser Frau, da war sie sich sicher, konnte sie eine Menge lernen. Außerdem war Nina ja verheiratet und hatte eine Tochter und einen Sohn im Teenager-Alter. Aber es gab auch etwas in ihr, das sie vor langer Zeit weggesperrt hatte und zu ignorieren versuchte: das Gefühl, dass ihr etwas fehlt. Schon bei ihrem ersten Freund sei es ihr so gegangen. Die heute 52-Jährige sagt: „Ich war verliebt in ihn, aber da war immer eine Lücke.“
Nina gefällt ihr neuer Job, vor allem wenn Johanna da ist. Um ihr nah zu sein, fängt sie wieder mit dem Rauchen an. Weil Johanna raucht. Dauernd muss sie an diese Frau denken, bekommt dabei Herzklopfen und Schweißausbrüche. Und sie träumt von ihr, immer denselben Traum: wie sie Johanna küsst. „Ich hatte gern Sex mit Männern“, erinnert sich Nina, „aber ich habe nie gern geküsst.“ Mit einem Mal wird ihr klar, dass die Liebe zu einer Frau genau das war, wonach sie so lange gesucht hatte.
Nina ist besonnen und weiß, dass man in außergewöhnlichen Situationen am besten erst mal alles sacken lässt. Und doch steht für sie fest, dass ihr neues Gefühl sich nicht würde revidieren lassen. Ob Johanna ihre Liebe erwidern wird, ist zweitrangig. Das Wichtigste ist dass sie sich gefunden hat. Aber da gibt es noch ihr altes Leben. Nina fühlt sich zerrissen. Wochenlang überlegt sie, wie sie es ihrem Mann sagen soll. 19 Jahre sind sie zusammen, sie kann auf die Vertrautheit und Sicherheit bauen, aber die Beziehung ist längst mehr praktisch als liebevoll. Manche Frauen, die sich spät outen, offenbaren sich ihren Partnern erst nach Jahren. Weil sie enorme Angst haben, jemanden zu verletzen. Melina Meyer von der Beratungsstelle Letra in München sagt: „Häufig reagieren die Männer zunächst verständnisvoll. Sie gehen davon aus, dass sich die Frau nur ausprobieren will und dann wieder zurückkommt.“ Die Krise käme erst, wenn sie verstehen, dass es kein Zurück gibt.
Ninas Mann ist nach ihrem Outing wie versteinert und sagt nur: „Das war es dann wohl.“ Mittlerweile sind die beiden geschieden und haben ein sachliches Verhältnis, in dem es ausschließlich um die Kinder oder Finanzielles geht. Es ist nicht möglich, die Situation gemeinsam aufzuarbeiten. „Ich würde mir das anders wünschen“, sagt Nina. In genau dem Punkt sieht sie ein tief sitzendes Problem ihrer Beziehung: „Wir konnten noch nie konstruktiv miteinander sprechen“, meint sie, und man sieht die Enttäuschung darüber in ihrem Gesicht. Nina will mit ihren Gefühlen nicht länger allein sein, also vertraut sie sich Johanna an. Die ist beeindruckt von Ninas Offenheit und Klarheit – und will sie näher kennenlernen.
Das erste Treffen ist verkrampft. Würde es nach Nina gehen, würde sie es wohl dabei belassen. Aber Johanna bleibt dran. Ein paar Wochen später, beim Schwimmen, beide im Bikini. „Ich fand sie so unglaublich sexy und wollte sie endlich küssen“, erzählt Nina und wird ein bisschen rot. Der Kuss sei wie in ihren Träumen gewesen, nur besser. Mit 44 Jahren spürt sie, dass sie doch gern küsst. Nina wollte mehr. Sex mit einer Frau, wie geht das eigentlich? Sie schüttelt die kurzen blonden Haare, noch heute ist sie erstaunt über ihren Mut. Ganz pragmatisch holt sie sich Pornos und Ratgeber aus einem Frauen-Sexshop. Ihr erstes Mal war vielleicht nicht sonderlich gekonnt, doch danach war sie völlig überwältigt. „Es ist viel erotischer und befriedigender als mit Männern, es ist einfach eine andere Ebene.“ Johanna sagte, sie fühle sich mit ihr lesbischer als je zuvor. Das macht Nina stolz.
Beratungsstellen verzeichnen in den vergangenen Jahren einen Zuwachs an späten Coming Outs, offizielle Zahlen dazu gibt es nicht. Die Sozialpädagogin Melina Meyer schätzt, dass ungefähr 30 bis 40 % aller Frauen, die bei ihr Hilfe suchen, bereits einen Mann und manchmal auch ein Kind haben, wenn sie merken, dass sie eigentlich lesbisch sind. So wie Jenna Lyons, 47, die Kreativdirektorin des amerikanischen Modelabels J. Crew, die sich plötzlich auf Empfängen mit ihrer Freundin Courtney Crangi zeigte, nachdem sie sich vom Vater ihres Sohnes getrennt hatte. Oder TV-Moderatorin Ramona Leiß, 59, die früher mit Medienmanager Fred Kogel liiert war und mit ihm einen Sohn hat – und sich 2008 öffentlich outete. Sich vom Partner zu lösen, weil der Weg nun anders verlaufen soll, ist schwer genug. Doch die größte Angst macht den Frauen das Outing vor ihren Kindern.
Ninas Leben hat nun eine brutale Gleichzeitigkeit: Einerseits ist sie glücklich verliebt, andererseits will sie ihre Kinder nicht verletzen. Als sie von dem Gespräch mit ihrer Tochter und ihrem Sohn erzählt, laufen ihr ganz unvermittelt Tränen übers Gesicht. Sie versammelt damals die ganze Familie um den Tisch: „Ich muss euch etwas sagen, das mir sehr leid tut. Ich habe mich in eine Frau verliebt.“ Die Tochter rennt davon und sperrt sich in ihrem Zimmer ein. Der Sohn findet, dass daheim schon lange etwas nicht gestimmt hatte. Ihr Mann bleibt stumm. Nina sorgt sich um die Kinder und fühlt sich zunehmend verloren. Zu Hause ist sie die fürsorgliche Mutter, bei Johanna die mutige Geliebte. Aber wer ist sie wirklich? Sie bekommt Schlafstörungen und Panik-Attacken. Auch Johanna ist angespannt, schließlich kennt sie Frauen, die nach dem Coming Out wieder in ihre Familien zurückkehren, weil sie die Verlustängste nicht aushalten. Zurück? Keine Option für Nina. Sie holt sich psychotherapeutische Hilfe und zieht in eine WG. Die Kinder bleiben beim Vater in der Familienwohnung. Und plötzlich sitzt die Ehefrau und Mutter mit einem Koffer und ihrem schlechten Gewissen allein in einem Zimmer.
Heute sind die Kinder 22 und 24 Jahre alt – und stolz auf ihre Mutter. Es braucht eine Weile, doch schon bald lernen sie Johanna kennen und schätzen. Sie haben es locker genommen, wie es in dieser speziellen Konstellation häufig vorkommt. Trotzdem hatte Nina die Tragweite ihres Coming Outs unterschätzt. Sie selbst fühlt sich befreit, doch ihr war nicht klar, dass sie auch die Kinder outen würde. Die Familie von früherist zerfallen, es sind jetzt zwei Familien: die Kinder und ihre Mutter. Und die Kinder und ihr Vater. Nina muss vieles zurücklassen. Zu vielen Bekannten reißt die Verbindung ab, eine gute Freundin sagt, dass sie Lesben nicht mag. Vor fünf Jahren hat Nina den Kontakt zu ihren Eltern und Brüdern abgebrochen. Sie hatten sie immer wieder beschimpft. All die Schmähungen hat sie für den Gesprächstermin auf einen gelben Zettel geschrieben und vor sich liegen. Bloß nichts davon vergessen, auch wenn es heute noch wehtut. Sie sagen, das sei doch eine biologische Störung, vielleicht die Wechseljahre, jedenfalls sei sie nicht normal. Einer ihrer Brüder meint, er hätte Angst, dass seine Frau auch lesbisch wird. Und: Nina würde ihren Kindern schaden. „Das hat mir am meisten zugesetzt, das war mein wunder Punkt“, sagt sie. Es ist hart für sie, dass ihrer Familie eine makellose Fassade wichtiger ist als ihr Glück. „Ich weiß, dass ich es meinen Kindern nicht immer leicht mache. Dafür haben sie eine glückliche Mutter.“
Nina hat inzwischen einen neuen Job und lebt mit Johanna zusammen. Wenn sie von ihr erzählt, wirkt sie immer noch verliebt. Manchmal fragt sie sich, warum es so lange gedauert hat, bis sie sich gefunden hat. Einige ihrer Freunde behaupten, sie hätten immer geahnt, dass sie eigentlich auf Frauen steht. „Hätten sie das nicht mal eher sagen können?“